von Karlheinz A. Geißler
Beschleunigungsprozesse und neue Zeitwahrnehmung

Karlheinz Geißler gibt mit seinem ´Vom Tempo der Welt´ ein mit viel Wortwitz und Sachverstand verfasstes Buch zur Zeit heraus. Wie sich die Zeit und deren Wahrnehmung im Laufe der letzten Jahrhunderte verändert hat oder besser wurde ist hier zu finden. Sinnigerweise teilt er diese Veränderungen in die Zeit der Vormoderne, Moderne und Postmoderne auf und macht dadurch klar, dass quasi jede Zeit ihre Zeit hat.

Klar wird dabei vor allem, dass die Zeit noch vor wenigen Jahrhunderten so gar kein Thema war, weil sie ganz einfach als Gott-gegeben betrachtet wurde. Lebensplanung oder Zeitmanagement waren hier noch unbekannt, denn schließlich glaubte man an eine höhere Macht und Schicksal. Ebenso wurde damals von kirchlicher Seite der Wucher oder Geldverleih für Zinsen abgestraft, weil nicht mit Gottes Zeit Geld verdient werden sollte. Das Leben wurde noch von ´Ereignissen´ und natürlichen Rhythmen bestimmt.

In der Moderne dagegen kam mit der Industrialsisierung auch die Notwendigkeit zum pünktlichen Arbeitsbeginn. Die Uhr lieferte hier das richtige Mittel und brachte mit sich die Unruhe. Aus der Lebenszeit wurde Arbeits- und Freizeit, wobei letztere schon wieder als Verschwendung von Verdienstmöglichkeiten angesehen werden konnte. Müßiggang adé, jeder wurde seines Glückes Schmied, der Gottgefallen abhängig von der Leistung und aus Zeit wurde Geld, die gemäß der Verwertungslogik des Kapitalismus nunmehr investiert, gespart, verloren und gewonnen werden konnte. Ganz nebenbei wurden aus Rhythmen Dynamiken, die Geschwindigkeit zum Maß vieler Dinge und in Beschleunigung schien das Glück dieser Welt zu liegen.

Mittlerweile scheint nach einigen Beschleunigungen ein Maß erreicht zu sein, wo ein mehr desselben nicht wirtschaftlicher ist, sondern stellenweise sogar kontraproduktiv. Seien es Produkte, die nach zu kurzen Testphasen auf den Markt geworfen werden (´Elchtest´) und nicht nur Imageschäden verursachen oder Entscheidungen zur Technikfolgenabschätzung, deren Datenbasis noch unzureichend gesichert ist. Auch für die Verwaltung von Terminen und einzelnen Zeitfetzen wird oft mehr Zeit verwendet als für die Ereignisse selbst. Wir leben zunehmend in einer Vielzahl von unterschiedlichen Zeiten und versuchen diese untereinander zu koordinieren und integrieren in ein gehetztes Leben, dessen Restzeit währenddessen verrinnt. Geißlers Ideen für einen neuen Umgang mit Zeit – was ja weitreichende Konsequenzen hätte – sind sicher diskussionswürdig.

Betrachtet man sich aktuelle gesellschaftliche Themen unter dem Aspekt ´Zeit´, dann wird schnell deutlich, dass diese so wenig greifbare und doch alles bestimmende Größe Problem und Lösung zugleich sein kann. Anregungen hierfür liefert Geißler in unterhaltsamer Form, ambitioniert und garniert mit vielen Aha-Erlebnissen beim Blick auf Vergangenes und Gegenwärtiges. Mir stellt sich nach dem Lesen die Frage, wie wenig oder wie sehr sind wir uns heutzutage eigentlich den Einflüssen der ´Zeit´ bewusst´? Ein lesenswertes Buch.